Bewegung im Kopf und im Serverraum: Wie schafft man eine Willkommenskultur für notwendige Veränderungen?
Alle reden von „digitaler Transformation“. Agilität sei dabei „ein echter Game Changer“. Doch wie können NGOs konkret vorgehen? Und bringt die vielgelobte Agilität tatsächlich Mehrwert?
Stellen wir uns eine kleine bis mittlere NGO vor, die mit erheblichem Veränderungsdruck von innen und aussen in Sachen Digitalisierung konfrontiert ist. Nennen wir diese Organisation «Ygility». Intern wird nach neuen Prozessen verlangt und verbesserten, digitalen Arbeitswerkzeugen. Hinzu kommen ein stetig wachsender Spenderstamm und die Notwendigkeit, effektivere Fundraising-Strategien entwickeln zu können. Dies führt zum Entschluss eine neue Spender:innen-Datenbank einzuführen. Das Ziel ist es, bessere Datenanalyse und eine personalisierte Kommunikation mit den Unterstützer:innen zu ermöglichen.
Beweglich und anpassungsfähig
Die Mitarbeitenden erkennen, dass ihre bisherigen Arbeitsmethoden nicht ausreichend sind, um dieses Projekt abteilungsübergreifend umzusetzen und die damit verbundenen Veränderungen zu bewältigen. Hier kommt das Konzept Agilität ins Spiel. Die Mitarbeitenden erfahren, dass Agilität die Fähigkeit einer Organisation beschreibt, beweglich und anpassungsfähig handeln zu können. Das Hauptziel ist dabei, schrittweise Veränderungen durch regelmässiges Sammeln von Feedback und Umsetzen in stetigen Anpassungsschritten zu ermöglichen.
Einsatz verschiedener Methoden
Ygility versucht, agile Methoden wie Scrum einzuführen, um das Spender:innen-Datenbank-Projekt zu organisieren. Sie bilden ein agiles Projektteam gebildet, das in Sprints zu arbeiten versucht und regelmässige Meetings zur Planung und Rückschau abhält. Sie verwenden Kanban-Boards, um den Projektfortschritt zu verfolgen und Hindernisse zu identifizieren. Obwohl diese Methoden anfangs vielversprechend scheinen, stellt Ygility fest, dass sie weiterhin auf Probleme stossen. Warum?
Agilität als Methode ist nicht in jedem Fall geeignet
Agilität ist nicht für alle Herausforderungen passend. Es gibt sogar Situationen, in denen von Agilität abgeraten werden kann. Wenn die Anforderungen und Lösungen für ein Projekt klar definiert sind und sich nicht oder nur minimal ändern, kann ein klassischer, plangetriebener Ansatz effektiver sein. Agilität ist vor allem dann geeignet, wenn es Unsicherheit und Komplexität gibt und eine iterative Vorgehensweise erforderlich ist. Wenn eine Organisation in einer stabilen Umgebung arbeitet, in der sich wenig ändert, kann der Einsatz agiler Methoden möglicherweise überdimensioniert sein. In solchen Fällen kann ein traditionellerer Ansatz angemessener sein. Die Umsetzung agiler Praktiken erfordert Zeit, Engagement und Ressourcen. Wenn eine Organisation über begrenzte Ressourcen verfügt und diese nicht ausreichend für die Implementierung und Aufrechterhaltung agiler Methoden aufbringen kann, kann es ratsam sein, alternative Ansätze zu wählen.
Anders denken, neu denken
In einigen Fällen, wie beispielsweise bei Projekten mit strengen gesetzlichen oder regulatorischen Vorgaben, bei denen ein hoher Kontrollbedarf besteht, kann ein plangetriebener Ansatz angemessener sein, um die Compliance-Anforderungen zu erfüllen. Agilität erfordert ein Umdenken in der Arbeitsweise, den Entscheidungsprozessen und der Organisationskultur. Wenn eine Organisation nicht bereit ist, diese Veränderungen anzunehmen und zu unterstützen, könnte der Versuch, Agilität umzusetzen, ineffektiv oder sogar kontraproduktiv sein.
Praxistaugliche Mischformen
Jede Organisation ist einzigartig, und die Entscheidung für oder gegen Agilität sollte auf einer fundierten Bewertung der spezifischen Umstände und Anforderungen basieren. In der Praxis ergeben sich oft Mischformen von agilen und plangetriebenen Ansätzen, um den heutigen Organisationsrealitäten Rechnung zu tragen.
Arbeitskultur überdenken
Des Weiteren müssen die Mitarbeitenden von Ygility feststellen, dass Agilität nicht nur ein Werkzeugkasten von Praktiken ist («Doing Agile»), sondern eine ganzheitliche Denkweise beziehungsweise einen tiefgreifenden kulturellen Wandel in Arbeitsweise, Entscheidungsfindung und Organisationskultur erfordert («Being Agile»). Sie stellen fest, dass sie ihre Arbeitskultur überdenken müssen, um das volle Potential der Agilität auszuschöpfen.
Konkrete Schritte definieren
Deshalb führt die Organisation eine Standortanalyse durch, um ihren bisherigen Agilitäts-Grad in «Doing» und «Being» zu evaluieren und Handlungsfelder zu identifizieren. Danach erarbeitet sie eine Vision und ein klares Zielbild von sich als agiler Organisation, an dem sich alle Teammitglieder orientieren können. Anschliessend setzt sie kleine Pilotprojekte auf, um gemeinsam erste Schritte zu gehen. Damit einher geht das Abhalten von regelmässigen gemeinsamen Rückschauen, um Umgesetztes auszuwerten, Erfahrungen zu teilen, Spannungen aufzugreifen und so den Rahmen der Veränderungen laufend anpassen zu können. Darüber hinaus beginnt Ygility damit, verstärkt auf Prinzipien wie offene Kommunikation, Transparenz und Zusammenarbeit zu setzen.
Der Wille zur Verbesserung
Das Vorhaben, eine neue Spender:innen-Datenbank einzuführen, dient Ygility als Katalysator für ihre Auseinandersetzung mit Agilität: Zuerst fördern sie die Bildung von abteilungsübergreifenden Teams, die anhand der tatsächlichen Bedürfnisse der Spender arbeiten. Durch regelmässige Feedback-Schleifen und einen kontinuierlichen Verbesserungsdrang entwickeln sie die Spender:innen-Datenbank in kleinen Schritten iterativ weiter. Erkenntnisse aus dem Projekt werden jeweils in die erweiterte Organisation getragen, um dort im Entwicklungsprozess hin zur agilen Organisation Anwendung zu finden.
Weiterbildungen
Zusätzlich investiert Ygility in die Weiterbildung und Entwicklung ihrer Mitarbeitenden, um das Verständnis für Agilität und die erforderlichen Fähigkeiten zu stärken. Sie fördern Eigenverantwortung und die proaktive Beteiligung aller Teammitglieder, um die Organisation und das Datenbank-Projekt gemeinsam voranzubringen. Mit der Zeit entwickelt Ygility so nicht nur die agilen Praktiken, sondern auch das Agil-Sein als Teil ihrer Organisationskultur.
Dieser Artikel von Simon Wirtz und Gesine Schuchert ist am 25.09.2023 im Fundreiser-Magazin 05/23 erschienen und wird hier mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.